Liebe macht blind, sagt ein altes Sprichwort. Wenig schmeichelhaft, wenn ich mich doch gerade einem Partner oder einer Partnerin ganz eng verbunden fühle, wenn ich das Gefühl habe, der Himmel hängt voller klingender Geigen und die Welt ist himmelblau. Keiner von uns ist gerne blind. Denn eigentlich möchte ich jederzeit Herr oder Frau meiner Situation sein, Risiken bewusst abwägen und reflektierte Entscheidungen treffen. Eigentlich. Nicht erst in den letzten Tagen mehren sich die Stimmen, die uns mahnen, dass wir uns haben einlullen lassen. Dass wir uns in eine Abhängigkeit begeben haben, deren Folgen wir jetzt zu bezahlen haben: erhöhte Benzin-, Gas- und Ölpreise. Wir haben es versäumt unsere Gasspeicher aufzufüllen, so heißt es, und auf Partner vertraut, die jetzt keine Partner mehr sind. Hat man uns Sand in die Augen gestreut? Sind wir blind gewesen oder geworden?
Im Neuen Testament finde ich im Markusevangelium eine Erzählung, wie Jesus einem Menschen ohne Augenlicht begegnet. „Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas?“ (Markus 8,22-23). Der Blinde sieht zunächst nur undeutlich, erst als ihm Jesus nochmals die Hände auf seine Augen legt, sieht er die Welt wie sie ist, klar, deutlich und alles scharf.
Es dauert, bis wir die Wirklichkeit als Realität wahrnehmen. Klarheit scheint nicht von Anfang an da zu sein. Wir müssen von der Situation berührt sein, um klar zu erkennen. Berührung schafft Nähe, verändert meine Wahrnehmung. Das, was ich berühre, was mich berührt, hilft mir, eine Situation deutlicher und sensibler wahrzunehmen. Verändert kann ich weiterzugehen, im besten Fall hoffnungsvoller.
„Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!“
Berührt und verändert, kann ich nicht so weitermachen wie bisher. Nicht wieder versinken im alten Trott, den alten Machenschaften, den unheilvollen Verstrickungen. Ich gehe zurück, aber verändert. Berührt von dem, was war, aber jetzt offen für neue Wege.
Das, was in der Ukraine und Europa geschieht, berührt mich. Was können wir tun? Zumindest das: mit offenen Augen wahrnehmen und unterstützen, was eben gerade möglich ist: durch tatkräftige Hilfe, durch Zuversicht und durch unsere Gebete. Berührt, von dem was ist, nicht nur unsere Türen öffnen, sondern auch unsere Herzen. Mit wachen Augen trotzig optimistisch sein. Menschen, die zu uns kommen, aufnehmen und annehmen. Gastfreundschaft leben. Heimat gewähren. Es sind Menschen, die vor dem Krieg fliehen, wie damals unsere Mütter und Väter. Die gute Kraft Jesus weitergeben und Berührungspunkte ermöglichen, damit Augen und Seelen geheilt werden. Im Vertrauen darauf, dass wir nicht alleine sind.
Pfarrerin Heike-Andrea Brunner-Wild, Ev.-Luth. Kirchengemeinde Hemhofen
Pfarrerin Heike-Andrea Brunner-Wild
Ev.-Luth. Kirchengemeinde Hemhofen