„An dem Ort, an dem wir recht haben, werden niemals Blumen wachsen im Frühjahr. Der Ort, an dem wir recht haben, ist zertrampelt und hart wie ein Hof. Zweifel und Liebe aber lockern die Welt auf (...)“. Die Worte des jüdische Lyrikers Jehuda Amichai passen für mich gut in unsere Zeit.
Ich wünsche mir mehr Zweifel und Liebe. Ob an der privaten Kaffetafel, beim Gespräch an der Ladentheke oder beim Post in Social Media. Ich will es gar nicht mehr: das schnelle Statement, die rasche Reaktion, die unbedachte Äußerung. Stattdessen wünsche ich mir: Raum zum Zweifeln. Raum dafür, sich nicht sicher sein zu müssen. Raum für wohltuende Offenheit.
Denn inzwischen weiß ich es zu schätzen, wenn sich jemand einmal nicht sicher ist. Wenn es, im privaten Gespräch, in der Fernsehdebatte oder in der Kommentarspalte, heißt: „Lass uns erstmal darüber nachdenken.“ Wenn erst noch andere Meinungen eingeholt werden dürfen. Obwohl man immer öfter hört, es bräuchte einfache, einsichtige Antworten. Rasch und deutlich eine Position einnehmen, damit gewinne man Pluspunkte in der öffentlichen Diskussion. Hauptsache schnell reagieren, dementieren kann man nachher immer noch? Und dann?
„Prüft alles, und das Gute behaltet“ (1. Thess 5, 21), so beschreibt die Bibel, dass Offenheit nichts ist, was verunsichern muss. Uns Menschen wird zugetraut, auch mit Vielschichtigkeit umzugehen. Vielfalt auszuhalten. Uns wird zugetraut, mehr zu wollen, als nur selbst rechtzuhaben.
Diese Worte des Paulus machen Mut abzuwägen, auch und gerade in diesen Zeiten. Man darf sich durchaus seine Meinung erst einmal bilden, bevor man sich äußert. Manchmal muss und sollte man das sogar. Man darf sich erlauben, andere und anderes in Ruhe wahrzunehmen. Und sich auch einmal, ja tatsächlich, von anderen Argumenten überzeugen lassen.
Denn nur so es möglich: miteinander das Gute finden und behalten. Im privaten Gespräch, in der Fernsehdebatte oder in der Kommentarspalte. Lockern wir den Boden aus Statements, Reaktionen und Meinungen auf. Ganz ohne Rechthaben. Wenn aus Zweifel Liebe wächst, sind wir auf einem guten Weg.
Ihre Julia Illner, Leitung BildungEvangelisch Erlangen