Vergebung - auch dem Dieb

Komisch wirkte sie am Telefon, die Leiterin der Johannessenioren. Durcheinander. Gar nicht ihre Art, ich kannte sie sonst als zackig, zupackend, zuverlässig. Warum kommt sie nicht zum Punkt?, fragte ich mich, wir wollten doch über meinen Vortrag zum Buß- und Bettag sprechen. Es dauerte, bis ich verstand: Nein, es geht ihr nicht um den Vortrag, auch nicht um den Seniorenclub. Als ich meine Ohren endlich scharf gestellt hatte, mich auch traute nachzufragen, weil ich den Anfang verpasst hatte, konnte ich die empörende Geschichte nacherleben: Von der Kurzreise mit ihrer Tochter nach Spanien und dem Geldbeutel. Immer hatte sie gut auf ihren Rucksack aufgepasst, sie waren vor Taschendieben gewarnt worden. Ihre Börse hatte sie nicht vorne verstaut, sondern hinten im Rucksack tief hineingesteckt. Den Hinweis auf ihre offene Vordertasche konnte sie also entspannt nehmen. Aber – oje, auch hinten war der Rucksack auf! Der Geldbeutel –weg! Der Verlust des Bargeldes schmerzt, keine Frage, viel schlimmer das Gefühl der Ohnmacht – sie hatte doch so gut aufgepasst! Besonders arg aber, als ihr klar wurde, Pass und Ausweis sind in dem Geldbeutel – da kann ich ja net mit nach Gibraltar fahren - und, oje, was wird am Flughafen sein – komm ich ohne Papiere wieder heim?! An dieser Stelle der Erzählung hätte ich dem Dieb gerne höchstpersönlich den Hals umgedreht – wie unglaublich gemein, eine ältere Frau zu bestehlen, die -selten genug- eine Entdeckungsreise mit ihrer Tochter unternimmt und sich freut wie ein Kind über das fremde Land mit allem Schönen! So ein Volltrottel! Verstehen die denn nicht, wie gemein sie sind?! Meine Seniorin war schon seit einer Woche wieder da, also offensichtlich heimgekommen mit dem Flieger, auch Gibraltar musste man nach Auskunft der Mitreisenden nicht unbedingt gesehen haben. Aber sie war immer noch durcheinander und verwirrt, aus der Bahn geworfen... Ich machte meiner Wut Luft, aber sie hatte noch ein Thema: „Immer bet ich das Vaterunser - aber jetzt kann ich es nicht mehr richtig beten. Immer, wenn ich ankomme bei der Stelle `Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern´, dann muss ich dazu sagen `Aber dem Dieb net!´“
Ich konnte gut, sehr gut verstehen, dass sie dem Dieb nicht vergeben konnte. Genau weiß ich nimmer, was ich gesagt habe, ich mag in solchen Zusammenhängen durchaus den Bibelvers „die Rache ist mein, spricht der Herr“ Ja, ich hoffe wirklich, dass Gott diesem Volltrottel irgendwann und irgendwie klarmacht, wie gemein er gehandelt hat…
Jedenfalls schwenkte unser Gespräch dann zum Vortrag - ob vor oder nach dem Kaffeetrinken, ob mit oder ohne Mikro...
Passenderweise war genau das Thema „Vergebung“ dran. Ein zentrales christliches Thema. Vielfach missverstanden, so als könne man tun, was man will und sich hinterher einen Persilschein holen. Oder als seltsame Pflichtübung: Sich selbst immerzu Sünden einreden, für die man dann Gott um Vergebung bitten muss. Ich versuche, um diese Klippen herumzusegeln. Wir alle leben von der Vergebung, davon, dass wir nicht auf ewig auf unsere Fehler festgelegt werden. Wir brauchen immer wieder Neuanfänge. Kreuz und Auferstehung machen es möglich. Und: ja, es macht frei, einem Menschen zu vergeben. Ich bin dann nicht mehr an diese Person gebunden, denn auch Wut und Hass binden. Ob der Vortrag funktioniert hat? Ich bin mir unsicher.
Dann ergreift die Leiterin das Wort. Erzählt in aller Ausführlichkeit von Spanien, vom Rucksack mit dem gut versteckten Geldbeutel. Vom Schrecken, dem Frust, dem Ärger, dem Aufenthalt bei der Polizei, der ewig dauerte und wenig brachte. Sogar vom Vaterunser mit dem Zusatz. Bis dahin kannte ich alles. Dann kam die Wendung: Sie erzählt von Gesprächen und Anteilnahme, die es ihr leichter gemacht hatten. Wie es ihr auf einmal möglich wurde, innerlich loszulassen. Sie schloss: „Ich muss sagen, ich kann den Dieb auch bewundern. Den Geldbeutel so aus dem Rucksack herauszufischen – der war echt geschickt, der Dieb!“

Dr. Bianca Schnupp

Autorin/Autor:
Pfarrerin Dr. Bianca Schnupp
Evang. Luth. Kirchengemeinde Johanneskirche
05.09.2020 (Woche 36/20)