Geschwister haben ein Gespür für Gerechtigkeit

Papst Franziskus hat am vergangenen Wochenende seine Enzyklika Fratelli tutti vorgestellt. Er schreibt über die Geschwisterlichkeit, die wir Menschen brauchen. Der Termin für die Veröffentlichung ist perfekt gewählt, denn seine Worte passen in eine Welt, die von Corona erschüttert wird. Geschwisterlichkeit unter den Menschen war spürbar in der Zeit des Lockdowns, als Jugendgruppen in den Kirchengemeinden sich auf kurzem Weg verständigt haben, um alten oder behinderten Menschen, die nicht aus ihrer Wohnung konnten, die Einkäufe zu erledigen. In diesen Momenten haben unsere jungen Menschen mit dem Herzen verstanden, was es heißt, dass wir alle Geschwister sind. Nachbarschaften haben Ähnliches getan. Das sind Erfahrungen, die strahlend aufgehen über den düsteren Bildern von Hamsterkäufen und egoistischem „Ich zu erst“- Denken. Als Geschwister lebt es sich viel einfacher. Unter Geschwistern kann sich einer auf den anderen verlassen. Als Geschwister achtet man aber auch darauf, dass sich nicht einer auf Kosten des anderen ausruht. Jeder, der Geschwister hat, weiß, welch feines Gespür wir in dieser Beziehung für Gerechtigkeit haben. Papst Franziskus ermutigt uns, diesem Gespür zu trauen, danach zu handeln und unser Miteinander entsprechend neu zu formatieren. Die Corona-Zeit bringt die Probleme, die es in unserer Gesellschaft gibt, klar ans Licht. Denn es ist bemerkenswert, dass für das Funktionieren der Wirtschaft ein zweiter Lockdown unbedingt verhindert werden soll. Zu unser aller Wohl ist das sicher richtig. Ein Lockdown bei Besuchen im Seniorenheim scheint aber leicht verschmerzbar zu sein. Obwohl da Menschen leben, die diese Wirtschaftskraft mit aufgebaut haben. Obwohl wir wissen, wie lebensnotwendig die sozialen Kontakte für unsere Seniorinnen und Senioren sind. Obwohl die meisten von uns wissen, dass wir selbst vielleicht einmal auf die Hilfe eine Pflegeeinrichtung angewiesen sein werden. Geschwisterlichkeit, wie Papst Franziskus sie nahelegt, meint nicht, mit dem Finger auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pflegeheime zu zeigen, die oft am Rand ihrer Kapazitäten arbeiten. Er ruft uns auf, zu überlegen, was es uns wert wäre, wenn es unser eigenes Leben angeht. Denn es geht unser eigenes Leben an. Niemand kann auf sich alleine gestellt das Leben meistern. Das haben alle Eltern in der Zeit erfahren, als die Schulen geschlossen waren. Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch unsere Kinder brauchen tatkräftige Unterstützung, Investitionen in Klassenzimmern, Informationstechnik und Personal. Papst Franziskus rät vor allem dazu, in der jungen Generation die Geschwisterlichkeit zu fördern anstatt den Konkurrenzkampf. Er empfiehlt, die Gemeinschaft zu stärken, anstatt die größtmögliche Selbstverwirklichung von Individualisten zu vermarkten. Papst Franziskus will Licht in die trübe Illusion bringen, dass jeder alles erreichen kann, wenn er nur seine Talente zielstrebig ausbaut. Wie wenig tragfähig das ist, sehen im Moment alle, die in der Luftfahrt arbeiten. Die besten Piloten, die vor einem Jahr noch unentbehrlich waren, haben heute keine Arbeit mehr. Erfolg ist nicht nur der Verdienst eines einzelnen, der sich optimiert. Erfolg ist immer das Zusammenspiel vieler. Papst Franziskus leitet an, unser Miteinander im nahen Umfeld ebenso wie in unserer Stadt, unserer Gesellschaft, unserer Welt dahin zu bewegen, dass Menschen nicht isoliert den Blick auf sich richten, sondern dass wir miteinander den Blick auf das Ganze lenken. Der Namenspatron unseres Papstes, der Heilige Franz von Assisi, war ihm dabei ein Wegweiser. Franz von Assisi überschreitet Grenzen im Denken, denn er zählt nicht nur die Menschen, sondern auch Erde und Wasser, Wind und Regen zu seinen Geschwistern. Unter Geschwistern gibt es ein feines Gespür dafür, dass nicht einer auf Kosten des anderen lebt.

Marcel Jungbauer

Autorin/Autor:
Pfarrer Marcel Jungbauer
Pfarrer der Gemeinden St. Xystus, Zu den heiligen Aposteln, St. Heinrich und St. Albertus Magnus
10.10.2020 (Woche 41/20)